12 Anwendungsfälle für die Erstellung eines digitalen Zwillings Ihrer Organisation.
Marc Kerremans, Analyst bei Gartner hat in einem Aufsatz insgesamt 12 Ansätze beschrieben, die die Übertragung des Konzeptes des "Digitalen Zwillings" von der Welt der physischen Dinge auf die Welt der organisatorischen Zusammenhänge empfehlen.
Führungskräfte aus den Bereichen Unternehmensarchitektur und Technologieinnovation sollten die Schaffung eines digitalen Zwillings ihrer Organisation (DTO) vorantreiben, um Unternehmensinitiativen insbesondere der digitalen Transformation besser planen und steuern zu können.
Frühere Forschungen haben einen digitalen Zwilling als digitale Darstellung eines physischen Objekts definiert. Die Implementierung eines digitalen Zwillings ist demnach ein gekapseltes Softwareobjekt, das die Eigenschaften eines physikalischen Objekts oder einer Sammlung von physikalischen Objekten widerspiegelt.
Das digitale Twin-Konzept kann aber auch auf komplexere Objekte der realen Welt wie Städte, Unternehmen oder Länder angewendet bzw. erweitert werden, um spezifische finanzielle oder andere Entscheidungsprozesse zu unterstützen.
Ein digitaler Zwilling eines Unternehmens (DTO) ist demnach ein dynamisches Softwaremodell eines Unternehmens, das auf operativen und/oder anderen Daten basiert, um zu verstehen, wie ein Unternehmen sein Geschäftsmodell operationalisiert, auf Veränderungen reagiert und Ressourcen einsetzt um den erwarteten Kundennutzen zu produzieren. Auf diesen abstrakteren digitalen Zwilling können dann Operationen wie Analyse und Simulation angewendet werden.
Die digitale Transformation wird eine ganze Reihe von komplexen Veränderungen in der Organisation sowie ihren internen und externen Beziehungen auslösen. Der Umgang mit dieser Komplexität ist eine Herausforderung. Das Konzept des digitalen Zwillings eines Unternehmens (DTO) soll Führungskräften helfen, Optionen vor ihrer Implementierung zu visualisieren und damit das Risiko von Fehlentscheidungen bei der organisatorischen Gestaltung zu reduzieren.
Basierend auf zahlreichen Interviews und Untersuchungen wurden 12 Anwendungsfälle herausgearbeitet, für die die Erstellung eines digitalen Zwillings der Organisation besonders nützlich ist:
Anwendungsfall 1: Wertorientiertes Programm- und Portfoliomanagement
Gartner empfiehlt Führungskräften des Programm- und Portfoliomanagements die Nutzung digitaler Zwillinge einer Organisation, um die strategischen und operativen Auswirkungen ihrer Programme und Projekte auf die Organisation besser planen und steuern zu können und insbesondere, um Fortschritt und Ergebnisse auch nach Abschluss des Programms oder Projekts messen zu können.
Anwendungsfall 2: Bedarfsorientierte Wertschöpfungsnetzwerke
Unternehmen arbeiten mit immer komplexeren, globalen Lieferketten. Bedarfsorientierte Wertschöpfungsnetzwerke werden dabei ganzheitlich konzipiert, um die Wertschöpfung über die gesamte Bandbreite der erweiterten Lieferkettenprozesse und -technologien hinweg zu optimieren. Das Netzwerk erfasst und orchestriert die Nachfrage auf der Grundlage eines nahezu latenzfreien Nachfragesignals über mehrere Netzwerke von Unternehmensbeteiligten und Handelspartnern hinweg.
Den Gestaltern derartiger Supply Chains kann ein digitaler Zwilling helfen, die Auswirkungen von Änderungen vor ihrer Umsetzung zu simulieren und die Leistung besser an die Geschäftsanforderungen anzupassen.
Anwendungsfall 3: Verfahrens- und Arbeitsanweisungen
Auch um Verfahrens- und Arbeitsanweisungen zu erstellen und zu pflegen, um Sicherheit, Qualität, Lieferfähigkeit und Kosten zu optimieren eiget sich ein digitalter Zwilling der Organisation; das Ableiten von Verfahrens- und Arbeitsanweisungen direkt aus dem digitalen Abbild der Realität verspricht eine höhere Konsistenz der Produkt- und Prozessqualität und -lieferung, schnellere Problemlösungen und eine drastische Erhöhung der Trainingsgeschwindigkeit für Neueinsteiger. Selbst in bereits sehr effizienzorientierten Produktionsumgebungen können Produktionsleiter einen DTO nutzen, um in Zeiten schneller Veränderungen lokale Suboptimierungen zu vermeiden bzw. zu erkennen.
Anwendungsfall 4: Unternehmensperformance und -kostenoptimierung
Enterprise Performance Management ist eine facettenreiche Disziplin mit vielen Abhängigkeiten. Ein digitaler Zwilling ermöglicht es, verschiedene Perspektiven - wie Finanzen, strategische Ziele, Qualität, Risiko, operative oder Prozesskennzahlen - über mehrere Produkte, Standorte, Marken oder Konzernunternehmen hinweg abzugleichen.
Die Interdependenz zwischen Funktionen, Prozessen und Key Performance Indicators können besser aufeinander abgestimmt werden. Zu den Vorteilen, die durch die Implementierung eines digitalen Zwillings realisiert werden können, gehören ein gemeinsames Verständnis, die Definition und Messung relevanter KPIs sowie eine Effizienzsteigerung durch Management by Exception, das sich auf unterdurchschnittliche Performance konzentriert. Kurzfristig ermöglicht es den Führungskräften, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Anwendungsfall 5: Digitale Transformation
Um eine digitale Transformation umzusetzen bedarf es dreier Elemente:
- Digitale Geschäftsprinzipien (Wie wird der digitale Geschäftserfolg gemessen? Wie wird das digitale Business Design entwickelt? Wer werden die Hauptakteure des digitalen Business Designs sein?)
- Digitaler Geschäftsentwurf (Was ist unser digitales Geschäft?)
- Digitaler Geschäftsausführungsplan (Wie können wir ein erfolgreiches Programm zur digitalen Geschäftsentwicklung umsetzen?)
Ein digitaler Zwilling hilft, den digitalen Geschäftsentwurf in einen digitalen Geschäftsausführungsplan umzuwandeln: welche Prozesse zwischen welchen Akteuren können wie digital unterstützt, digitalisiert bzw. digital überhaupt erst ermöglich werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Konsequenzen für das Unternehmen insgesamt.
Anwendungsfall 6: Strategisches Geschäftsprozessmanagement
Der Erfolg von Business Process Management (BPM) zur Unterstützung der Strategieumsetzung hängt von der vollständigen Transparenz der Funktionen und Prozesse sowie der Wechselwirkungen zwischen ihnen ab. Es hängt auch davon ab, wie gut sich das Unternehmen an veränderte Geschäftsbedingungen anpassen kann.
Ein digitaler Zwilling einer Organisation ermöglicht es, ein kontextbezogenes Modell für Geschäftsprozesse aufzubauen. Das Modell visualisiert, wie sich Geschäftsprozesse und insbesondere deren Änderungen auf die Wertschöpfung auswirken können, ermöglicht die Abstimmung der Prozessergebnisse mit den gewünschten operativen und strategischen Ergebnissen, die Schaffung geeigneter visueller Tracking-Lösungen, insbesondere für Wertschöpfungsketten und die Abbildung von Daten auf die Prozesstopologie auf allen Ebenen.
Anwendungsfall 7: Customer Experience Management
Customer Experience Management beschreibt "die Praxis, Kundeninteraktionen zu gestalten und auf Kundeninteraktion zu reagieren, um die Erwartungen der Kunden zu erfüllen oder zu übertreffen, um die Kundenzufriedenheit und Loyalität zu erhöhen".
Der digitale Zwilling einer Organisation ermöglicht es, ein unternehmensweites Performance Management aus Kundensicht aufzubauen und sich auf die kontinuierliche Verbesserung von Kundenprozessen und -interaktionen konzentriert. Diese Transparenz und die damit verbundenen Erkenntnisse helfen, das Kundenerlebnis zu verbessern. Der digitale Zwilling ermöglicht es Unternehmen zu erkennen, welche Kundenprozesse und -interaktionen vorhanden sind, welche unterschiedlichen Kundensegmente was von dem Unternehmen erwarten und wie sich dies in KPIs und Zielen umsetzen lässt, wie Kundenprozesse funktionieren und welche Prozessverbesserungen notwendig sind, um die Kundenerwartungen zu erfüllen und zu übertreffen.
Anwendungsfall 8: Operationalisierung von Geschäftsereignissen
Ein Geschäftsereignis ist eine vorübergehende Gelegenheit, in der Menschen, Daten, Unternehmen und Dinge dynamisch zusammenarbeiten, um Wert zu schaffen. Ihre Nutzung erfordert digitale Geschäftsplattformen und Lösungsoptionen, die "situative Intelligenz" in Echtzeit sammeln und umsetzen.
Der digitale Zwilling einer Organisation ermöglicht es zu untersuchen, wie beobachtete Ereignisse und unterschiedliche Verhaltensweisen miteinander verbunden sind und wie sie alle zusammen funktionieren, wobei unterschiedliche Ergebnisse für verschiedene Interessengruppen berücksichtigt werden können. Da die meisten der Ökosysteme, in denen Organisationen tätig sind, offen sind, sich also ständig ändern, ermöglicht ein digitaler Zwilling, ein kontinuierliches situatives Bewusstsein über die Strukturen, die Operationen und die Zusammenhänge selbst zu schaffen.
Anwendungsfall 9: Operationalisierung der Geschäftsfähigkeiten
Ein Geschäftsfähigkeitsmodell ist eine Darstellung des Geschäfts eines Unternehmens, unabhängig von dessen Struktur, den Prozessen, den handelnden Personen oder den Domänen des Unternehmens. Es wurde entwickelt, um es einem Unternehmen zu ermöglichen, das "was wir tun sollten" basierend auf seiner Geschäftsstrategie auszudrücken, damit es Entscheidungen darüber treffen kann, "wie wir es tun".
Ein digitaler Zwilling einer Organisation unterstützt die Operationalisierung von Geschäftsfähigkeiten und ermöglicht darüber hinaus die Messung der Effizienz und Effektivität der erworbenen Fähigkeiten und überwacht kontinuierlich den Status der Fähigkeiten innerhalb der wertschöpfenden Tätigkeiten.
Anwendungsfall 10: Business Process Outsourcing
Die meisten Anbieter von Business Process Outsourcing (BPO) verwenden heute eine Vielzahl von Excel-Tabellen, Prozessmodellen, statischen Standard-Engagement-Verfahren, Vertragsvorlagen mit vordefinierten KPIs und monatlichem Reporting als Grundlage für die Einhaltung von Verträgen und SLAs.
Um eine leistungsstarke BPO-Organisation zu schaffen, können Führungskräfte einen digitalen Zwilling der Organisation nutzen, um die unterstützenden Geschäftsbetriebsmodelle zu visualisieren und den Business Case und den Wert von Outsourcing-Geschäftsprozessen kontinuierlich zu messen.
Das digitale Modell ermöglicht
- die Visualisierung integrierter Abläufe, die mehrere Dimensionen verbinden (z.B. Verträge, Projekte, Leistung, Prozess, Risiko und Compliance),
- die Erstellung optimierter Management-Berichte,
- die Ausrichtung aller KPIs, die die tatsächliche Leistung anzeigen und die über klassische SLA-Indikatoren hinausgehen,
- die Beurteilung der Reife verschiedener Prozesse,
- die Identifizierung regionaler Unterschiede in der Art und Weise, wie Prozesse durchgeführt wurden und
- den Vergleich mit Best Practices.
Anwendungsfall 11: Fusionen und Übernahmen
Bei Fusionen und Übernahmen (M&A) kommen ganze Unternehmen, Einheiten oder Untereinheiten zusammen, und häufig stellt sich die Frage, ob es mögliche Synergien, Komplementaritäten oder bestimmte Bestandteile des Geschäftsbetriebssystems gibt, die kombiniert werden können. Darüber hinaus kann es interessant sein zu untersuchen, wo bestimmte Veräußerungen oder Reorganisationen von Geschäftseinheiten vorgenommen werden könnten und welche Auswirkungen dies haben würde.
Für diesen Anwendungsfall würde das Konzept des digitalen Zwillings einer Organisation enorm dazu beitragen, einen digitalen Zwilling der neuen Organisation zu schaffen und diesen mit der Kombination beider Geschäftsmodelle zu vergleichen. Dies kann natürlich nicht für die gesamte Detailorganisation erreicht werden. Ein solches Modell kann jedoch verwendet werden, um bestimmte Szenarien dynamisch und visuell zu unterstützen.
Um Probleme/Risiken im M&A-Prozess zu bewerten, zu simulieren oder sogar vorherzusagen, können Führungskräfte einen digitalen Zwilling aufbauen, um ein Geschäftsbetriebsmodell für das neu entstehende Unternehmen zu erstellen.
Anwendungsfall 12: Risikomanagement und Business Continuity Management
Zwei weitere unterschiedliche, aber verwandte Bereiche sind das Enterprise Risk Management und das Business Continuity Management (BCM). Risikomanagement ist ein Prozess, der von der Unternehmensführung durchgeführt wird und darauf abzielt, potenzielle Ereignisse zu identifizieren, die sich auf das Unternehmen auswirken können, und das Risiko zu managen, um eine angemessene Sicherheit hinsichtlich der Erreichung der Ziele des Unternehmens zu bieten.
BCM hat sich weit über die Wiederherstellung von IT-Systemen hinaus weiterentwickelt, um die dauerhafte Stabilität kritischer Geschäftsprozesse zu gewährleisten im Falle von Ereignissen wie Naturkatastrophen, Krankheitsausbrüchen oder Ausfällen der Lieferkette.
Da es sowohl im Risikomanagement als auch im BCM viele Abhängigkeiten gibt, schafft ein digitaler Zwilling einer Organisation Transparenz über diese Abhängigkeiten. Das digitale Modell visualisiert die Risikoziele und Risikokontrollen in gleicher Weise wie die Leistungsziele und Leistungsindikatoren und bietet Transparenz und Governance, indem es die Ressourcen aufzeigt, die mit jedem der Bestandteile wie Märkten, Vertriebskanäle, Produkten, Interaktionen, IT-Systemen und Anwendungen verknüpft sind.
Der digitale Zwilling einer Organisation hat enormes Potenzial, um Erkenntnisse bezüglich der eigenen Organisation zu gewinnen und bessere Entscheidungen zu treffen - er ist jedoch kein Allheilmittel, um das eigene Geschäft zu verstehen. Ein digitaler Zwilling ist keine Technologie oder ein singuläres Produkt. Um die Komplexität zu reduzieren und zu überwinden, benötigen Sie einen Kompetenzzentrum-Ansatz, der verschiedene Dimensionen wie Organisation und Kultur, Skills, Methoden, Technologie und Architektur, Metriken und Governance kombiniert. Ein digitaler Zwilling ist auch kein Ersatz für Business Intelligence, Enterprise Architecture oder andere Unternehmensanwendungen; er ist komplementär.
Ein digitaler Zwilling ist keine einmalige Implementierung; er erfordert einen agilen Ansatz und folgt einem Wachstumsmodell.
Bei einem digitalen Zwilling der Organisation geht es um Organisationen; daher sind Führung, Kultur und Menschen kritische Erfolgsfaktoren.
Die Implementierung eines digitalen Zwillings der Organisation erfordert Vision und vor allem Mut.
Zum Originalbeitrag: "12 Powerful Use Cases for Creating a Digital Twin of Your Organization" (Gartner, Inc., 56 Top Gallant Road, Stamford, CT 06902 USA)